Weiterbildung: Gestatten, Algo Rithmus, der neue unheimliche Kollege – KI in Medien
Prof. Christof Seeger ist Professor an der Hochschule der Medien (HdM) in Stuttgart – aktuell macht er eine Hospitation bei Convensis und bereichert unser Team sowohl strategisch als auch im Alltag. An der HdM befasst er sich auch mit Künstlicher Intelligenz (KI) in den Medien: ihre Geschichte in den letzten Jahrzehnten, welche Rolle sie einnimmt, und wie ihre Entwicklung (vor allem in den Medien) weitergehen könnte. Bei einer Fortbildung gab er dem Team Einblicke zur Entwicklung der KI, und was das für das Berufsfeld Public Relations bedeuten könnte. In einem Artikel stellt er die wichtigsten Punkte aus seiner Weiterbildung noch einmal vor – viel Spaß beim Lesen!
Künstliche Intelligenz: Kaum ein anderes Thema weckt so viele Zukunftsassoziationen –verknüpft mit der Hoffnung auf die Lösung vieler Probleme in fast allen Lebensbereichen. Dabei hat die so genannte künstliche Intelligenz schon zweimal den Anlauf genommen, um als Schlüsseltechnologie den großen Durchbruch zu schaffen.
Bereits 1965 hat der Nobelpreisträger und Pionier auf dem Gebiet der KI, Herbert Simon, gesagt: „Machines will be capable, within twenty years, of doing any work a man can do“. Zwanzig Jahre später befand sich die KI-Entwicklung tatsächlich eher an einem Tiefpunkt. Modelle und Theorien wurden zwar weiterentwickelt und erforscht, aber es hat einfach an der notwendigen Computer- und Rechenkapazität gefehlt, die verfügbaren Datenspeicher waren viel zu klein und die Trainingsdaten, um die Modelle zu trainieren, waren nicht ausreichend vorhanden.
Globaler Investitionshype
Im Jahr 2021 stehen die Zeichen eher auf nachhaltigen Erfolg. Dafür gibt es einige zentrale Gründe: Zunächst existiert eine Art von globalem Investitionshype, vor allem in den USA und China. Der weltweite Umsatz mit Unternehmensanwendungen im Bereich der KI wird in diesem Jahr auf knapp 8 Milliarden US$ geschätzt und soll bis zum Jahr 2025 auf über 31 Milliarden US$ steigen. Zum Vergleich: Der Umsatz 2016 betrug 350 Millionen. Viele Staaten investieren in Forschung und Entwicklung – und es existiert eine große Gründerfreudigkeit von Start-ups im KI-Bereich.
Die Speicher- und Rechnerkapazitäten haben sich fast exponentiell entwickelt. Jedes Smartphone hat heute millionenfach mehr Speicher als der Bordcomputer der Apollo-11-Mission – und der hat vor 50 Jahren immerhin eine bemannte Crew zum Mond und wieder zurückgebracht. Auch bei der Rechenleistung ist das Smartphone bereits 120 Millionen Mal so schnell.
Jeder wird gemessen und getrackt
Durch die Digitalisierung ist die Verfügbarkeit von Daten gewährleistet. Heute wird alles und jeder gemessen oder getrackt. Um einmal zu verdeutlichen, was in nur 60 Sekunden an digitalen Informationen anfällt, hier ein paar Beispiele: 970.000 Facebook-Logins; 266.000 Stunden Netflix-Streams; 38 Millionen WhatsApp-Nachrichten; 860.000 US$ Online-Umsatz.
Es existieren viele Open-Source-Anwendungen und kostenlose Tools: Die Einstiegsschwelle für Entwickler:innen ist sehr niedrig, weil die Werkzeuge kostenlos verfügbar sind. Außerdem gibt es mit Python oder R+ eine breite Community an Programmierer:innen und Entwickler:innen. Auf Plattformen wie GitHub oder Kaggle.com werden öffentliche Wettbewerbe ausgeschrieben, um einen Code zu optimieren. Oft nehmen mehrere hundert Teams an einem solchen Projekt teil. Bis zu 100.000 US$ winken dabei dem Gewinner.
Setzt sich die KI durch?
Kurz gesagt: Die Voraussetzungen dafür, dass KI sich nachhaltig durchsetzen wird, sind so günstig wie nie. Eine kleine Typologisierung soll helfen, den Überblick zu behalten:
Robotics, bzw. Robotic Process Automation (RPA)
Derzeit ist dies der Bereich der KI mit den meisten Anwendungen. Auch wenn einige Algorithmen mit einer „künstlichen Intelligenz“ im eigentlichen Wortsinne wenig zu tun haben. Vielfach besteht die Aufgabe darin, die physische Umwelt zu beeinflussen, indem beispielsweise bestimmte Abläufe und Prozesse optimiert werden. Haushaltsrobotik kennen wir von unseren Saugrobotern oder dem kleinen Gerät, das uns den Rasen mäht. Humanoide Robotik ist ein stark wachsender Bereich mit hohen Anforderungen an die KI. Vor allem bei der Pflege oder dem Einsatz an besonders gesundheitsgefährdenden Arbeitsorten gibt es Potenzial. Für die Medienwelt wäre beispielsweise ein Anwendungsfeld in der Zustellung von gedruckten Produkten wie Zeitungen oder Zeitschriften denkbar.
Natural-Image-Processing
Objekterkennung ist wohl eine der zentralen Problemstellungen in der Entwicklung hin zu autonomen Fahrzeugen. Die Erkennung und Zuordnung von Objekten in einer sich dynamisch verändernden Umwelt ist eine der Kernherausforderungen für KI-Systeme.
Gerade bei einer der Hauptaufgaben von Medienunternehmen, nämlich der Erstellung von Inhalten, wird diese Entwicklung nützlich sein. Beispielsweise in der automatisierten Verschlagwortung von Bildern und Videos – denn der Algorithmus erkennt, was oder wer auf dem Bild abgebildet ist. So werden große Datenmengen einfacher nutzbar. Wer kennt das nicht im Betrieb, dass solche Tätigkeiten wie das Meta-Tagging meist mit weniger Priorität behandelt werden? – das könnte sich durch KI bald ändern.
Hier haben wir ein Potenzial: Routinearbeiten können Algorithmen besser und schneller durchführen.
Expert-Systems und Empfehlungsalgorithmen
Grundlage dieser Anwendungsfälle ist das Vorhandensein von vielen Daten (Big Data), die meist in unstrukturierter Form vorliegen. Mittels künstlicher Intelligenz können auf ganz verschiedene Arten Strukturen, so genannte Patterns, und Gemeinsamkeiten (Cluster) in Daten erkannt werden. Amazon generiert über ein Drittel der Umsätze aus Artikelvorschlägen, die sich aus dem früheren Kaufverhalten ableiten. Netflix gibt sogar an, dass 80 % der Streams auf Vorschlägen beruhen.
Die Medienbranche könnte das nutzen, um die Mediennutzer:innen noch besser zu verstehen und beispielsweise den Partner:innen ein optimiertes Angebot zu unterbreiten und noch mehr Kundenorientierung anbieten zu können.
Natural-Language-Processing
Neben den Empfehlungsalgorithmen ist dies der Bereich, der die Kommunikationsbranche wohl am meisten beeinflussen wird. Es ist bemerkenswert, über welche semantischen Fähigkeiten NLP heute schon verfügt – sei es bei der Übersetzung in andere Sprachen und natürlich bei der Anwendung von Smartspeakern wie Alexa oder der Sprachsteuerung durch Siri. Auch für die Medienbranche ergeben sich hier wiederum Ansatzpunkte, wie beispielsweise Roboterjournalismus. Es gibt in Los Angeles automatisierte Bots, die, verbunden mit Seismographen, Texte zur Erdbebenaktivität erstellen. Auch bei der Sportberichterstattung werden diese Algorithmen zunehmend angewendet, vor allem, wenn es um die ereigniszentrierte Berichterstattung geht. Associated Press produziert über 10.000 Texte pro Baseball-Saison – wenn Algorithmen diese Texte schreiben könnten, würde das viel Zeit sparen.
Algo Rithmus – der neue Kollege
Am Ende kann man zu der Erkenntnis gelangen, dass man dem neuen Kollegen Algo Rithmus positiv und offen gegenübertreten sollte. Er wird sicherlich in Zukunft eine wichtigere Rolle spielen und Dinge tun, zu denen wir bislang keine Zeit hatten, oder zu denen Ressourcen gefehlt haben. Er kann uns bei manchen Themen den Rücken freihalten, damit wir uns auf die wesentlichen Dinge konzentrieren können.
Es gibt aber nicht nur die Ebene des technisch Machbaren, sondern auch eine ethische und gesellschaftliche Verantwortung – gerade für die Kommunikationsbranche. Dort, wo es um die Kernprozesse geht, sollten wir auf gut qualifizierte Menschen setzen, und dem neuen Kollegen Algo Rithmus Einhalt gebieten und Grenzen aufzeigen. Wir Medienmacher:innen müssen mit der mediatisierten Umwelt sehr sensibel umgehen. Für zu viele Menschen ist die veröffentlichte Meinung zu schnell die öffentliche Meinung, und wir müssen uns immer bewusst sein, dass wir den größten Teil unserer Wahrnehmung der Welt durch Medienberichte erhalten. Das, so hoffe ich, wird nie durch optimierte selbstlernende Algorithmen geschehen, sondern durch die kritische Reflexion und Einordnung von echten Menschen.